D. Bulinsky: Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten

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Titel
Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und sein soziales Umfeld


Autor(en)
Bulinsky, Dunja
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 48,00; CHF 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Monika Mommertz, Departement Geschichte, Universität Basel

In der internationalen Wissenschaftsgeschichte spielt seit gut dreißig Jahren die Erforschung von Kooperationen, Beziehungsnetzen und der in diese oft eingeschlossenen, teils sichtbaren und oft auch unsichtbaren bzw. unterrepräsentierten Helferinnen und Helfer im Umfeld mehr oder weniger bekannter Wissenschaftler- und Gelehrtenfiguren eine zunehmend bedeutende Rolle. Nicht nur, aber besonders auch für die Frühe Neuzeit hat sich dieser Trend als fruchtbar erwiesen: Gerade die frühen empirischen und beobachtenden Wissenschaften waren auf Instrumente, Praktiken und Räume angewiesen, die traditionelle Wissensinstitutionen wie Klöster, Schulen und Universitäten nicht zur Verfügung stellen konnten. „Neue“ oft noch nicht disziplinär verfasste Wissenschaften von der Botanik über die Zoologie bis zur Beobachtungsastronomie, von der Pharmazie bis hin zur frühen Chemie (um nur einige zu nennen) waren konstitutiv auf das Wissen und die Fähigkeiten von nicht gelehrten Wissensträger:innen angewiesen. Früh hat deshalb auch die Geschlechtergeschichte auf mitarbeitende und immer wieder selbst zu Wissenschaft beitragende weibliche und männliche Familienangehörige, auf den „Haushalt“ als zentrale Institution von Praxis und Kommunikation der gelehrten Tätigkeit und insbesondere Naturforschung hingewiesen. Gelehrte beiderlei Geschlechts und insbesondere Naturforscher sowie auch nicht wenige Naturforscherinnen werden deshalb heute nicht mehr als kontextlos „erfindende“ und Neues „erdenkende/entdeckende“ Individuen, sondern als von Zu- und Mitarbeit mehr oder weniger abhängige, in Beziehungsnetzen agierende Persönlichkeiten erforscht.

Die von Dunja Bulinsky vorgelegte Monographie fügt sich in diese Forschungslandschaft bestens ein. Es handelt sich um die leicht überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin, die 2018 am Historischen Seminar der Universität Luzern von Jon Mathieu betreut und von der Scheuchzer-Spezialistin Simona Boscani-Leoni zweitbegutachtet wurde. Thema der Arbeit sind die „Nahbeziehungen“ des vorwiegend in Zürich wirkenden Arztes, Klimatologen, Fossilienforschers bzw. Paläobotanikers Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Ganz im Sinne des skizzierten Wandels der Forschungsschwerpunkte der Wissenschafts- und Gelehrtenforschung der Frühen Neuzeit – welche die Autorin in einem einführenden Unterkapitel zum Forschungstand knapp und mit starker Fokussierung auf die jüngere deutschsprachige Forschung anspricht – richtet sich das Interesse der Arbeit auf den bisher in dieser Weise noch wenig untersuchten, seinerzeit in ganz Europa wahrgenommenen Schweizer Gelehrten im Kontext von engeren Beziehungsnetzen unterschiedlicher Art.

Das verarbeitete Material ist beeindruckend umfangreich: Als Quellengrundlage wird das gesamte gedruckte und nicht gedruckte Werk Scheuchzers und vor allem seine Briefe bzw. Briefentwürfe für nicht weniger als 700 Korrespondenten angegeben. Anhand dieses Korpus gelingt es tatsächlich, die in vielen gelehrten Korrespondenzen unterrepräsentierten, wenn nicht unsichtbar gehaltenen Helfer und Helferinnen einer Gelehrtenexistenz zu eruieren, darunter u.a. die Ehefrau Scheuchzers, verschiedene Dienstboten, aber auch Jäger, Bauern und andere ungelehrte Akteure und Akteurinnen. Ebenso wird die zeitliche und inhaltliche Entwicklung der Schülerbeziehungen oder das spezielle Verhältnis zum jüngeren und ebenfalls wissenschaftlich publizierenden Bruder Johannes Gruppe und deren Bedeutung für weitere Gruppenbildungen unter Gelehrten in der Schweiz deutlich herausgearbeitet. Die Ergebnisse der damit ein außergewöhnlich weites Spektrum von Beziehungsformen umfassenden Untersuchung werden detailliert, dabei klar gegliedert und strukturiert präsentiert. Die Autorin entwirft ein facettenreiches Gesamtbild, in dem der individuelle Gelehrte durch seine Abhängigkeiten und Handlungsmöglichkeiten in einem breiten Beziehungsnetz von gelehrten wie nicht gelehrten Personen konturiert wird.

Auf eine Zusammenfassung von Leben, Werken und Reisen Scheuchzers folgt eine erste ausführliche Darlegung der verschiedenen Wohnorte, die schon die räumlichen Bedingungsverhältnisse charakterisieren, in denen sich Scheuchzers „Nahbeziehungen“ situierten. Hier sticht das museum diluvianum hervor, das einen Teil der materiellen Basis für dessen einflussreiche Sintflut-Theorien umfasste und – für zeitgenössische Sammlungen nicht unüblich – in Scheuchzers privaten Wohnraum integriert war. Aus der großen Zahl überlieferter Briefe und anderer privater Schriften zeichnet Bulinsky in den folgenden Teilen anschauliche Vignetten des wissenschaftlichen Alltags, in denen Besucher aus der näheren und ferneren Gelehrtenwelt ebenso ihren Platz haben, wie Bedienstete und sogar schreiende Kleinkinder. Auch die teils prekäre wirtschaftliche Seite des Gelehrtendaseins wird nicht unterschlagen, plastisch etwa in den Versuchen Scheuchzers, seine Einnahmen durch Publikationsprojekte für lokale Oberschichten zu verbessern, bezahlte Exkursionen für Schüler zu organisieren, am Dedikationswesen seiner weiteren Umgebung teilzuhaben oder Sammlungsstücke zu verkaufen – zugleich typische Anlässe wie Bedingung von Beziehungspflege und Vernetzung im Dienste seiner Gelehrsamkeit. Vor diesem Hintergrund werden in weiteren Teilen des vorzustellenden Buches die verschiedenen Beziehungstypen vorgestellt – und auch hier besticht die material- und nuancenreiche Darstellung. Was die engeren Beziehungen zu den weiblichen und männlichen Familienmitgliedern (Söhnen), allen voran aber der Ehefrau angeht, so sind die Quellen begrenzt, vermutlich auch, weil man sich im engeren Familienkreis bei gleichem Wohnort kaum schriftlich miteinander verständigte. Dennoch: Bulinsky geht sorgfältig auch indirekten Hinweisen nach, so dass selbst hier die Mit- bzw. Unterstützungsarbeit erkennbar wird. Ein eigenes Kapitel ist gemeinsamen (Forschung-)interessen und Aktivitäten mit dem zwölf Jahre jüngeren Bruder Johannes Scheuchzer gewidmet, die u.a. städtische Vernetzung, barometrische Messungen, Sammeltätigkeiten und kleinere Forschungsreisen umfassten. Weitere interessante Einblicke in die z.T. lebenslangen und durchaus unterschiedlich gestalteten Arbeits- und Unterstützungsbeziehungen, die Scheuchzer mit seinen ehemaligen Schülern verbanden, bietet ein weiteres Kapitel. Diese Schüler (allesamt Männer) fungierten z.T. als unverzichtbare Kommunikatoren und Vermittler im Rahmen sowohl überregionaler wie internationaler Gelehrtenkontakte und -korrespondenzen. Auch sie unterstützten Scheuchzer bisweilen bei seiner Integration, aber auch in Konflikten mit den lokalen Oberschichten.

Bulinskys Studie vermittelt eine selten umfassende Vorstellung der konkreten sozialen Umfelder und Beziehungsformen, die noch im 18. Jahrhundert den Rahmen für alltägliche Wissenschaftsarbeit abgaben. Sie liefert wertvolle Erkenntnisse zur Scheuchzers Wirken und stellt eine willkommene Ergänzung bereits zu seiner Person vorliegenden Ergebnisse und Perspektiven dar. Positiv hervorzuheben ist u.a. die Erschließung der bisher noch kaum einschlägig ausgewerteten Korrespondenz mit dem jüngeren Bruder und Naturforscher Johannes Scheuchzer. Vor allem aber gelingt es im Fokus auf „Nahbeziehungen“ und in gründlicher Quellenarbeit, die Kooperationen und Beiträge in Scheuchzers Wirken sowohl von Gelehrten, wie von Menschen, die der Gelehrtenwelt nicht nahestanden, sozusagen gleichranging herauszuarbeiten. Die dauernde Verflechtung der verschiedenen, nur scheinbar getrennten „Welten“ wird dadurch besonders schön fassbar. Eine stärker konzeptionelle Einordnung des Fallbeispiels hätte hier Anschlüsse durchaus auch an die internationale Forschung erlaubt. Denn obwohl ein guter Teil der (deutschsprachigen) unmittelbar einschlägigen Forschung in Fußnoten bzw. im Literaturverzeichnis auftaucht, werden in den letzten gut drei Jahrzehnten entwickelte analytische Konzepte (etwa das der „family firms“, der „Wissenschaft als Arbeitssystem“, der „Funktionenteilung in der Wissenschaft“, der „Schattenökonomie von Wissenschaft“, der „gelehrten Geselligkeit“, des „local knowledge“ der „nicht gelehrten Wissensträger:innen“, der gelehrten Naturforschung „auf den Schultern von Zwergen“ oder auch der „indigenous informants“) nicht weiter diskutiert. Hier besteht noch Raum für weitere Publikationen. Insgesamt leistet die Autorin einen fundierten Beitrag nicht nur zur Schweizer Wissenschaftsgeschichte und bietet darüber anregende und aufschlussreiche Lektüren für an Praktiken und Beziehungen interessierte Wissenschaftshistoriker:innen wie für Studierende und nicht zuletzt auch die wissensgeschichtlich interessierte breitere Leserschaft.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.11.2022
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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